Interview mit Frank Scholze

Frank Scholze Frank Scholze

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„Der neue Jahresbericht passt zu unserer Strategie, alles durch die digitale Brille zu betrachten.“

Frank Scholze Generaldirektor

Frank Scholze Foto: Alexander Paul Englert

Guten Tag Herr Scholze, wir starten mit einer Premiere: Der erste digitale Jahresbericht ist da! Wie sieht Ihr Gemütszustand aus – überwiegt die Freude oder ist auch Wehmut im Spiel?

Bei mir überwiegt absolut die Freude über diesen schönen neuen Jahresbericht. Er ist zeitgemäß und passt zu unserer Strategie, als Deutsche Nationalbibliothek alles durch die digitale Brille zu betrachten. Zudem haben wir digital eine größere Reichweite: Wir erreichen mehr Menschen und unsere Inhalte werden pointierter und fokussierter transportiert als zuvor.


Im letzten Jahresbericht haben Sie den Wunsch geäußert, nicht mehr so viel über Corona sprechen zu müssen. Können wir den Wunsch an dieser Stelle in Erfüllung gehen lassen?

Ja! Corona ist nicht mehr das beherrschende Thema. Doch mit den Lockerungen der Corona-Maßnahmen im März 2022 war nicht von heute auf morgen alles wie zuvor – und so kann es auch nicht mehr werden. Es gab 2022 vielmehr eine Art Ausschwingen in einen neuen Normalzustand, beispielsweise beim Thema Homeoffice. Hier haben wir bewusst entschieden, gemeinsam eine neue Balance zu finden. Schließlich sind wir auch eine physische Einrichtung und wollen uns vor Ort wieder vermehrt begegnen.


Haben Sie das Gefühl, dass die Ziele der DNB mit mehr Präsenz besser umgesetzt werden können?

Nein, so würde ich es nicht formulieren. Wir haben auch während der Corona-Beschränkungen sehr Vieles erfolgreich umgesetzt. Aber die Bindung, der soziale Zusammenhalt, dieses intensive einander Begegnen – all das hat gelitten. Dafür braucht es einfach eine physische Komponente und die erarbeiten wir uns jetzt wieder gemeinsam, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Aufgaben und individuellen Bedürfnisse innerhalb der Teams. Hier haben wir 2022 mit der neuen Dienstvereinbarung einen breiten Rahmen mit 60 Prozent mobilen Arbeitsformen in unterschiedlichen Zusammensetzungen etabliert.


In Bezug auf Corona mag langsam so etwas wie Normalität einkehren, an anderer Stelle wurden vermeintliche Gewissheiten zerstört: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Im Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen. Was bedeutet dieser Krieg für die Arbeit der DNB?

Der Krieg in der Ukraine war das beherrschende Thema des letzten Jahres. Das ist ein umfassender Krieg, der auf die Auslöschung einer Kultur zielt – und damit auch auf Bibliotheken, Archive und Museen in der Ukraine. Als Deutsche Nationalbibliothek engagieren wir uns auf drei Ebenen: der nationalen Ebene, der Ebene der DNB und auf der privaten Ebene der Kolleg*innen vor Ort. Auf der nationalen Ebene hat die Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung das Netzwerk „Kulturgutschutz Ukraine“ ins Leben gerufen. Es verfolgt das Ziel, alle Akteure im Bereich Kultur zusammenzubringen. Als Deutsche Nationalbibliothek koordinieren wir zusammen mit der Staatsbibliothek zu Berlin den Bereich Bibliotheken.


Was bedeutet das konkret?

Wir versuchen, die Hilfsgesuche der ukrainischen Bibliotheken zu bündeln, um sie mit den Hilfsangeboten der deutschen Bibliotheken zu matchen. Es hat dann eine Zeitlang gedauert, bis die Logistik aufgebaut war, die Hilfe auch in die Ukraine zu bringen. Inzwischen haben wir mit der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft für Wirtschaft und Wissenschaft einen sehr guten Partner, der uns dabei unterstützt, vor Ort zu helfen. Wir haben immer wieder Verpackungsmaterial, Computertechnik oder Scanner zu ukrainischen Bibliotheken bringen können, vor allem in Kiew und in der Region Rivne.


Was passiert auf der zweiten Ebene, die Sie angesprochen haben?

Auf Ebene der DNB haben wir sehr schnell unser Augenmerk auf unsere Bestände mit Ukraine-Bezug bzw. auf Übersetzungen aus ukrainischer Literatur ins Deutsche gelegt. Auf unserer Website haben wir viele Informationen zur ukrainischen Kultur gebündelt, um diese bekannter zu machen. Außerdem haben wir Stipendien an ukrainische Kolleginnen vergeben, um Geflüchteten hier vor Ort konkret Hilfe leisten zu können. 2022 hat es vier Stipendien für Bibliothekarinnen aus unseren eigenen Mitteln gegeben und zwei für Autorinnen aus zusätzlichen Mittel der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. 


Das klingt nach einer Menge Arbeit, das haben die Kolleg*innen alles neben ihrer regulären Arbeit geschafft? 

Ja, unsere Kolleg*innen in der DNB haben hier eine sehr hohe Motivation und Verantwortung und haben das tatsächlich alles on top gemacht. Sowohl das Engagement auf der nationalen Ebene, die Betreuung der Stipendiatinnen auf Ebene der DNB als auch zusätzliches Engagement auf privater Ebene in der Geflüchtetenhilfe – zum Beispiel in offenen Cafés, im Rahmen von Sprachunterricht oder der Vermittlung medizinischer Hilfe.


Das Engagement der Mitarbeitenden ist eine schöne Überleitung zu einer weiteren Premiere: der erste Hackathon der DNB. Was können Sie uns zu diesem Projekt sagen?

Das war eine Initiative, die von den Kolleg*innen ausging. Wir haben das große Glück, dass wir verschiedene Mitarbeitende haben, die sich mit Hackathons auskennen. Sie haben ein kleines Projektteam gebildet und den gesamten Prozess organisiert. Bei einem Hackathon kann jede*r Ideen pitchen und Menschen dafür begeistern, an einer Idee mitzuarbeiten. Finden sich genug Menschen für eine Idee zusammen, können sie diese zwei Tage lang ausarbeiten und somit Themen voranbringen. Am Ende werden die Ergebnisse präsentiert.  


Und die Generealdirektion hat gar nicht mitgemischt?

Die Unterstützung der Generaldirektion spielt insofern eine wichtige Rolle, als wir den beteiligten Kolleg*innen die benötigte Arbeitszeit zur Verfügung gestellt haben. Es war aber keine strategische Entscheidung der Generaldirektion, sondern es kam Bottom-up die Frage auf: Wie können wir dynamisch, agil und vor Ort nach innen für die DNB wirken? Der Hackathon ist dafür ein wirklich gutes Format, weil damit genau die Themen gefördert werden, welche die Menschen bei uns umtreiben. Ich glaube, das war sehr wertvoll für die Arbeitsatmosphäre, für die Kollegialität, die Begegnung und den Austausch.


Kommen wir nun zu den aktuellen Strategischen Prioritäten bis 2024. Vielleicht können Sie ein kleines Zwischenfazit ziehen: Wie lautet Ihre Bilanz? 

Zur Halbzeit 2022 kann man bereits sagen, dass wir uns viel vorgenommen haben, was über den aktuellen Strategiezyklus hinausweist – allein die Grundaussage, wir wollen unsere Sammlungen vollständig und dauerhaft auch in digitaler Form anbieten können. Aber insgesamt sind die Strategischen Prioritäten wichtig, um gemeinsam Korridore zu beschreiben, in die wir gehen. Digitalisierung, Automatisierung und Kooperation sind hier die wichtigsten Stichworte. Auch 2022 haben wir sehr viel erreicht und eine unglaublich große Menge an Inhaltsverzeichnissen und digitalen Objekten bereitgestellt.
Ich glaube auch, wir müssen jedes Jahr ein bisschen einüben, zufrieden mit dem Erreichten zu sein. Wir müssen uns da einerseits fordern, aber andererseits auch feiern, was wir erreicht haben.


Was wurde denn im Bereich Employer Branding im letzten Jahr erreicht?

Employer Branding war und ist ein beherrschendes Thema. Wir müssen immer wieder reflektieren: Wie können wir als Organisation attraktiv bleiben? Wie können wir unsere Attraktivität nach außen darstellen, welche Geschichten erzählen wir? Wir sprechen zum Beispiel sehr aktiv über gute Rahmenbedingungen wie die bereits erwähnten mobilen Arbeitsformen. Außerdem investieren wir viel in Fortbildungen und Trainings, ein Schwerpunkt liegt auf den Führungskräften als Multiplikator*innen für Zufriedenheit und Motivation. Zudem bieten wir Rotationsprogramme mit anderen Bibliotheken an, nicht zuletzt mit der Staatsbibliothek zu Berlin und der Bayerischen Staatsbibliothek.  


Und welche Art von Mitarbeitenden werden zukünftig gebraucht? Gibt es da im Rahmen der Digitalisierung eine Verschiebung hin zu immer mehr Informatiker*innen?

Ich glaube, Digitalität und Digitalisierung stellen eine Entgrenzung bzw. eine stärkere Durchdringung dar. Das heißt, man kann nicht in einem „abgegrenzten Hinterhof der Kompetenz“ bleiben, denn die Dinge vernetzen sich stärker. Damit brauchen wir in allen Bereichen Menschen mit der Lust und Bereitschaft, sich immer weiter zu entwickeln und sich mit IT- Fragestellungen, mit technischen Systemen, mit Abhängigkeiten, mit Prozessen auseinanderzusetzen – das können Bibliothekar*innen, Buchhändler*innen, Mediengestalter*innen, Geisteswissenschaftler*innen oder Menschen anderer Berufshintergründe sein.


Eine Person, die darauf Lust hat, ist zumindest schon gefunden: Im Jahr 2022 wurde eine wichtige Personalentscheidung bei der DNB getroffen.

Genau, ein weiteres persönliches Highlight des letzten Jahres: Die Entscheidung für die Nachfolge von Michael Fernau, meinem ständigen Vertreter am Standort Leipzig, wurde getroffen. In einem intensiven, mehrstufigen Auswahlverfahren ist die Wahl auf Johannes Neuer gefallen, der ab 1. August 2023 seine neue Aufgabe übernehmen wird.


Gibt es ein weiteres Highlight aus dem letzten Jahr, das Sie abschließend thematisieren möchten?

Für mich persönlich sowie die DNB generell war im vergangenen Jahr außerdem wichtig, dass die Planungen für unseren fünften Erweiterungsbau am Standort Leipzig in die nächste Phase gehen können. In der Fachsprache heißt dies, wir bereiten nun die „initiale Projektunterlage“ vor, die Voraussetzung für einen Architekturwettbewerb ist, mit dem das Projekt dann konkrete Gestalt annimmt. Das ist für uns ein wichtiger Meilenstein, weil wir bei aller Digitalität auf unabsehbare Zeit physische Medien sammeln werden.

Letzte Änderung: 19.09.2023

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