Digitalisierung und Bestandserhaltung
Foto: Josephine Kreutzer
Liebe Frau Gömpel, von Ihnen stammt die Aussage: "Wir haben so viel digitalisiert wie in keinem Jahr zuvor!" In welchen Bereichen wurde 2023 wie viel digitalisiert?
Unsere Digitalisierung war im vergangenen Jahr erfreulich breit aufgestellt. Wir haben über 5,7 Mio. Seiten von mehr als 62.000 analogen Werken digitalisiert, dazu über 4.000 Kompaktkassetten und 1,6 Mio. Inhaltsverzeichnisse. Wir konnten systematisch weitere Teile des Bestands ab dem ersten Buch – also ab dem ersten Regalmeter 1913 in Leipzig sowie 1945 in Frankfurt am Main – in die digitale Form überführen. Auch Nachlässe aus dem Deutschen Exilarchiv 1933–1945, buchhändlerische Geschäftsrundschreiben sowie der historische Altbestand des Deutschen Buch- und Schriftmuseums gingen in die Digitalisierung. Für Wissenschaft und Forschung digitalisierten wir einen Teil des Bestands an Heftromanen, also Kioskliteratur, die in der Regel in keiner anderen Bibliothek gesammelt wurde, und außerdem unsere Exilzeitschriften.
Wie hoch ist der Anteil der Digitalisierung inzwischen insgesamt?
Bezogen auf den Gesamtbestand der DNB bleibt die Digitalisierung zwar ein Tropfen auf den heißen Stein – wir haben bisher zwischen 1 und 2 % des analogen Bestands digitalisieren können. Schaut man allerdings auf einzelne Bestandssegmente, dann liegt die Quote sehr hoch: So konnte 2023 die Digitalisierung aller Kompaktkassetten abgeschlossen werden – über 56.000 Exemplare. Ähnliches gilt für die Bücher der Exilsammmlungen oder für einzelne Sammlungsteile des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.
Was meint das Stichwort "Kataloganreicherung" – und welche Ziele konnten diesbezüglich verwirklicht werden?
Wir scannen tagesaktuell die Inhaltsverzeichnisse aller Bücher, die ins Haus kommen. Sie sind über den Katalog der DNB zu nutzen und unterstützen, weil sie im Volltext durchsuchbar sind, die Literaturrecherche und -auswahl. Zudem ist es ein nationaler Service für andere Bibliotheken, die gescannten Inhaltsverzeichnisse für eigene Zwecke zu übernehmen. Außerdem arbeiten wir im Altbestand und scannen retrospektiv Inhaltsverzeichnisse. Hier konnten wir das Großprojekt nahezu abschließen, bei dem sämtliche Inhaltsverzeichnisse von Büchern im Frankfurter Magazin gescannt wurden. Nutzende haben in Kürze Zugriff auf über 5 Mio. statt bisher 2,7 Mio. Inhaltsverzeichnisse.
Ist das Jahr 2023 damit als Blaupause für kommende Digitalisierungsanstrengungen zu betrachten?
Ja, unbedingt. Dies setzt allerdings die entsprechenden Ressourcen, also Personal und Budget, voraus. 2021 bis 2024 wurden und werden die finanziellen Möglichkeiten durch Sondermittel der Staatsministerin für Kultur und Medien für Digitalisierungsmaßnahmen erweitert. Dies hilft deutlich, eine digitale Schicht über unseren Bestand zu legen. Im regulären Haushalt der Deutschen Nationalbibliothek ist noch kein eigener Titel für Digitalisierung vorgesehen.
Nach welchen Kriterien wird denn beschlossen, was als Nächstes digitalisiert wird?
Dazu muss man wissen, dass die Digitalisierung unterschiedlichen Zwecken dient. Zum einen geht es um den Schutz und die Informationssicherung der Text-, Bild- und Tondokumente des gesammelten kulturellen Gedächtnisses Deutschlands. Sie wird also immer dann eingesetzt, wenn Werke in ihrer Materialität stark geschädigt oder gefährdet sind und andere konservatorische Maßnahmen wirtschaftlich und/oder fachlich nicht vertretbar sind. Zum anderen sollen mit der Digitalisierung die Sichtbarkeit, der Zugang sowie die Nutzungsmöglichkeiten der eigenen Bestände verbessert werden: für Wissenschaft und Forschung, für Bildung und Kultur sowie für die interessierte Öffentlichkeit im In- und Ausland.
Die Digitalisierung ihrer Bestände hat die DNB ja auch in ihrer Strategie festgeschrieben.
Ja, die DNB verfolgt seit dem Jahr 2021 das langfristige Ziel, die analogen Bestände vollständig auch in digitaler Form zugänglich zu machen. Entsprechend werden die bisher vorrangig selektiv angelegten Digitalisierungsmaßnahmen nach und nach systematisch an beiden Standorten erweitert. Das Ziel: eine digitale Schicht über den analogen Bestand legen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Priorisierung der Digitalisierungsmaßnahmen folgt einer Balance aus all diesen strategischen Grundlagen.
2023 waren die Quarantäneräume sehr stark ausgelastet – insgesamt mussten knapp 700 Umzugskartons in Quarantäne. Was passiert dort mit den Beständen?
Bestände aus Retroerwerbungen oder mit Verdacht auf Schädlings- oder mikrobiellen Befall werden im Quarantäneraum separiert, um ein Überspringen des Befalls auf andere Bereiche zu vermeiden. Die betroffenen Bestände werden für ca. 6 Wochen im Quarantäneraum belassen, um eine mögliche Population von Insekten festzustellen. Dabei werden Fallen in und am Bestand aufgestellt und ausgewertet. Ist ein Bestand befallen, wird dieser ggf. durch einen Dienstleister behandelt. Bei kleineren Mengen kann dies durch die Bestandserhaltung selbst erfolgen.
Welche Form der Behandlung kommt da zum Zug?
Grundsätzlich wird nach Möglichkeit kein Gift verwendet, sondern in der Regel mit Sauerstoffentzug gearbeitet. Verschimmelte Objekte werden unter einer sogenannten reinen Werkbank gereinigt. Dies dient dem Arbeitsschutz, damit Mitarbeiter*innen die Schimmelsporen nicht einatmen. Größere Bestandsgruppen werden durch Dienstleister gereinigt, da die Bestandserhaltung dafür keine Kapazitäten hat. Wenn die Bestände „sauber“ sind, werden sie zur weiteren Bearbeitung an die jeweilige Fachabteilung gegeben und können dann zurück ins Magazin.
Apropos Magazin: Seit 2023 ist die Magazinkartierungsapp "Bonpland" auch auf dem IPad verfügbar: Wer nutzt die App vorrangig?
Die App wird derzeit vor allem durch die Bestandserhaltungsmitarbeiter*innen genutzt. Sie nutzen sie, um bestimmte Parameter zu erfassen, die für strategische Entscheidungen zur Maßnahmenplanung wichtig sind. Auch die Magazinkolleg*innen nutzen die App, um Zustandserfassungen nach Anleitung durch die Bestandserhaltung zu machen. Konkret für die Digitalisierung werden z. B. Öffnungswinkel und Einbandstabilität bewertet, damit bei der Digitalisierung kein Schaden entsteht.
Welche Funktionen umfasst die App?
Die App hat im Prinzip drei Grundfunktionen. Es gibt eine Kartenerstellungsfunktion, da die Karte als Grundlage dient, eine Stichprobe zu erstellen und zu bewerten. Eine weitere Funktion ist die Erstellung von Regalierungen in der Karte mit dazugehöriger Medientypisierung. Ist die Karte erstellt, kann in einer weiteren Funktion die entsprechende Stichprobe mit einem definierten Konfidenzintervall ausgewählt werden. Mit der Funktion „Zustandserfassung“ können dann die Zustände der vorab ausgewählten Stichprobe bewertet werden. Die App hat hinsichtlich der Erfassungsparameter eine maximale Flexibilität, sodass sehr unterschiedliche Fragestellungen beantwortet werden können – z. B. die Frage nach der Digitalisierbarkeit einer bestimmten Bestandsgruppe oder ob Reinigungsbedarf besteht. Die Erfassungsparameter, z. B. der Öffnungswinkel, können im Vorfeld einer Erfassung seitens der DNB je nach Fragestellung entsprechend angepasst werden.
Bestandserhaltung und Digitalisierung sind kein Selbstzweck – ganz im Gegenteil. Beides dient dem Ziel, möglichst vielen Menschen die Benutzung der Bestände zu ermöglichen. Wie geht das mit den Digitalisaten?
Vorweg gilt: Der Schutz von Urheberrechten ist für die Deutsche Nationalbibliothek ein hohes Gut. Sprechen wir von urheberrechtlich geschütztem Material, werden die digitalisierten Objekte nur in den Lesesälen der Bibliothek zur Verfügung gestellt. Gemeinfreies Material bzw. Material, das nicht dem Urheberrecht unterliegt, wird weltweit zur Verfügung gestellt. Frei zugängliche Digitalisate werden zusätzlich im Rahmen der Text and Data Mining-Angebote über das DNBLab zugänglich gemacht. Die Werke werden auch in der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) und Europeana bereitgestellt.
Welche Digitalisate werden besonders intensiv in Anspruch genommen?
Besonders stark werden die digitalisierten Inhaltsverzeichnisse genutzt: über 4,8 Mio. Mal im letzten Jahr, das sind rund 13.400 Aufrufe pro Tag. Aber auch die Zugriffe auf die digitalisierten Werke nehmen beständig zu: Je mehr digitalisiert vorliegt und je mehr weltweit frei zugänglich ist, umso stärker ist verständlicherweise die Nutzung; und dies steuert unser Bestreben auch für die kommenden Jahre
Letzte Änderung:
04.06.2024