Neu im Amt: Interview mit Johannes Neuer

Johannes Neuer Foto: Stephan Jockel

Lieber Herr Neuer, das Jahr 2023 hat für Sie persönlich am 1. August in der Deutschen Nationalbibliothek begonnen – Ihrem Startdatum als neuer Direktor in Leipzig. Wie haben Sie Ihren Berufswechsel erlebt?

Ich war begeistert, dass ich dieses Amt antreten durfte! Die ersten Monate habe ich als wirklich positiv empfunden. Die Mitarbeitenden sind mir sehr hilfsbereit, geduldig und offen gegenübergetreten. Das war eine schöne Erfahrung, auch die Übergabe mit meinem Vorgänger, Michael Fernau, verlief sehr gut. Ich habe eine steile Lernkurve vor mir, die auch weiterhin andauern wird. Ein so großes Haus mit zwei Standorten und über 600 Mitarbeitenden: Das braucht ein wenig Zeit, alles kennenzulernen – in Bezug auf die Gebäude, die Organisation und natürlich die Menschen selbst.


Die DNB hat Sie demnach herzlich empfangen. Und wie haben Sie den Neustart in der Stadt Leipzig empfunden?

Ich bin wirklich sehr glücklich, in Leipzig zu sein. Ich kenne die Stadt seit über 30 Jahren und war immer mal wieder hier. In meinen Augen hat Leipzig eine tolle Balance zwischen Natur und Kultur sowie weltoffene Bürger*innen, die das Leben hier bestimmen. Besonders gefällt mir, dass die Stadt so vielschichtig und bunt ist. Das erinnert mich ein bisschen an meine Zeit in New York, auch wenn es natürlich viele Nummern kleiner ist. 


Kommen wir zu den großen Projekten auf Ihrem Schreibtisch. Momentan ganz oben: der fünfte Erweiterungsbau in Leipzig. Was können Sie uns zum aktuellen Stand verraten?

Wir haben eine finale Projektunterlage in Auftrag gegeben. Damit einher geht, dass wir 2024 den Architektenwettbewerb ausloben können. Wir hoffen auf schöne, kreative Beiträge für unser neues Magazingebäude, das 35,5 Millionen Medien Platz bieten wird. Es soll sich einerseits gut in das Gesamtgebilde der bestehenden Gebäude einbetten, andererseits aber auch einen eigenen Akzent setzen. Und als Symbol dafür einstehen, dass wir für Meinungsfreiheit und für kritisches Denken in einer demokratischen Gesellschaft stehen. 


Das sind ja durchaus viele Anforderungen an ein Gebäude, die da unter einen Hut gebracht werden müssen – Ästhetik, Funktionalität und natürlich das allem übergeordnete Thema der Nachhaltigkeit. Wie wird dieses angegangen?

Nachhaltigkeit ist ja nichts Neues für die Nationalbibliothek. Wir haben bereits beim vierten Erweiterungsbau, der 2011 eröffnet wurde, nachhaltige Aspekte wie Geothermie-Sonden in die Gebäudeplanung hineingenommen. Im neuen Gebäude spielt die Nachhaltigkeit eine noch größere Rolle. Wir werden zum Beispiel darauf achten, dass das Gebäude träge ist. Das bedeutet, dass es von vornherein mit wenig Energie die klimatisch besten Umstände sicherstellt, um unsere Medien auf Dauer aufzubewahren. Die zusätzliche Energie, die für optimale Bedingungen nötig ist, soll dann nachhaltig erneuerbar sein. Parallel zum Bauprojekt erarbeiten wir ein Energiekonzept für die gesamte Liegenschaft der DNB in Leipzig. 


Und wie wird das Ganze von innen aussehen?

Es ist angedacht, dass hier eine automatisierte Magazinierung eingebaut wird. In welcher Form haben wir jedoch noch nicht festgelegt. Ziel ist, dass es eine sehr effiziente und weitgehend voll automatisierte Archivierung und Auslieferung der Medienarten an unsere Nutzenden geben wird.


Wie kann man sich eine solche Vollautomatisierung vorstellen?

Ich war Ende 2023 in Ottawa bei den „Library and Archives Canada“. Dort gab es Roboter, die vollautomatisiert ganze Regalteile aus dem Magazin entnehmen und diese zu einer Ausgabestelle bringen, an der Mitarbeitende die angeforderten Medien dann entnehmen und zur Ausleihe weitergeben. Wenn die Medien nicht mehr gebraucht werden, sortiert das System diese vollautomatisiert wieder zurück ins Magazin. So in etwa stellen wir uns das auch für den fünften Erweiterungsbau vor.


Wie ist die DNB in Ihren Augen in puncto Künstliche Intelligenz aufgestellt?

Die DNB ist hier sehr gut aufgestellt. Sie arbeitet schon seit über zehn Jahren mit KI im Bereich der inhaltlichen Erschließung von Netzpublikationen. Digitale Medien, die zusammen mit den mitgelieferten Metadaten auf unseren Servern gespeichert werden, durchlaufen eine sogenannte Erschließungsmaschine. Diese Maschine liest die Texte und Daten vollautomatisiert ein und verknüpft sie mit inhaltsbeschreibenden Metadaten wie Sachgruppe und GND-Schlagwörtern, damit Nutzende diese Werke besser finden können. Auf diese Weise sind die Werke thematisch untereinander verknüpft. Das ist für Forschende, die auf der Suche nach passender Literatur sind, sehr nützlich. 


Hier sind Bibliotheken im Bereich KI also als Vorreiter zu sehen?

Nicht Bibliotheken im Allgemeinen, aber die Deutsche Nationalbibliothek im Besonderen. Dabei gehen wir als DNB anders an die KI heran. Im Gegensatz zu Diensten wie ChatGPT trainieren wir unsere KI-Verfahren nämlich nicht mit Fremddaten, sondern innerhalb unseres eigenen Systems – und damit urheberrechtskonform. Das ist ein großer Unterschied zu kommerziellen Anbietern, bei denen es aktuell viele Fragen gibt, inwiefern das Ganze mit dem Urheberrecht vereinbar ist.


Welche Grenzen sehen Sie aktuell im Bereich KI und Bibliotheken?

Die Qualität ist natürlich ein wichtiger Aspekt. Unsere KI arbeitet qualitativ bereits sehr hochwertig. Nichtsdestotrotz arbeiten wir kontinuierlich daran, unsere Ergebnisse zu verbessern, indem wir unsere Erschließungsmaschine weiterentwickeln. Unsere momentane Grenze ist, dass die KI derzeit überwiegend auf die digitalen Medien angewendet wird. Für die analogen Medien läuft die Erfassung über intellektuelle Erschließung. Hierbei geben Bibliothekar*innen die Daten – unterstützt von verschiedenen Werkzeugen wie dem Digitalen Assistenten – in ein Katalogsystem ein. In diesem Bereich sehen wir Entwicklungspotenzial. Auch analoge Medien sollen mit KI aufbereitet und erschlossen werden können. 


Sie bringen durch Ihre langjährige Tätigkeit an der New York Public Library viel internationale Erfahrung mit. Gibt es Aspekte, in denen die DNB von den USA lernen kann?

Bibliotheken in den USA sind in Vermittlungsformaten noch präsenter. Dies betrifft sowohl wissenschaftliche als auch städtische Bibliotheken – und ganz besonders die New York Public Library. Sie kümmert sich stark um die Bildung von jungen Menschen, aber auch von Minderheiten. Und sie betreibt ein ausgeprägtes Marketing, dass die Marke Bibliothek sehr prominent in die Gesellschaft hineinträgt. Ich glaube, davon können wir uns in Deutschland eine Scheibe abschneiden. Das geht auch einher mit dem Selbstverständnis von Bibliotheken. Diese werden in den USA stolz als ganz organischer und notwendiger Teil einer funktionierenden Demokratie gesehen – das könnten wir auch in Deutschland stärker in den Vordergrund stellen. Neben dem Marketing wird in den USA außerdem viel mehr im Bereich Fundraising gemacht. Das findet dort in einer Umgebung statt, in der viel mehr Menschen philanthropisch oder ehrenamtlich unterwegs sind. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass wir hier in Deutschland noch Potenziale heben könnten.


Um einmal am Beispiel Marketing konkret zu werden. Welche Potenziale sehen Sie in diesem Bereich für die DNB?

Da gibt es ganz verschiedene Ansätze. Allgemein würde ich sagen, dass wir die Marke DNB bekannter machen müssen: in ganz Deutschland, aber auch an den eigenen zwei Standorten. Ich habe das in meinem eigenen Bewerbungsverfahren erlebt. Als ich erzählt habe, wo ich mich bewerbe, haben manche zum ersten Mal gehört, dass es überhaupt eine Nationalbibliothek gibt. Ich glaube, genau da müssen wir anfangen. Dass wir mehr über uns reden – und von uns reden machen.


Wie kann das funktionieren?

Zum Beispiel indem wir noch präsenter in den sozialen Medien werden und unsere Communitys durch interessante Beiträge ausbauen. Wir müssen sowohl relevante Beiträge zu unseren Medien liefern als auch zu den Werten, für die wir einstehen. Wir müssen unsere Verteiler vergrößern und mehr digitale Angebote über unsere Seiten anbieten. Ich denke zum Beispiel an Angebote, die überall von Schüler*innen zum Forschen und Entdecken genutzt werden können – eine Art Citizen Science. Sprich, dass Leute selbstständig wissenschaftlich arbeiten und beispielsweise durch Metadaten unsere Sammlungen anreichern. All das sind denkbare Dinge, die wir auch außerhalb der Standorte leisten können.


Das heißt, Sie wollen auch vermehrt jüngere Zielgruppen erreichen?

Ja, in diesem Zusammenhang möchte ich gerne eine Errungenschaft von 2023 nennen, auch wenn ich diese noch nicht verantwortet habe. Und zwar hat der Verwaltungsrat zugestimmt, dass wir Nutzende statt ab 18 Jahren bereits ab 16 Jahren zulassen. So können jetzt bereits Zehntklässler*innen bei uns ihre Abschlussarbeit schreiben: ein Beitrag zu unserer Mission, mehr jüngere Menschen zu erreichen.  


In Ihren Worten klingen Barrierefreiheit und Niedrigschwelligkeit der Angebote bereits an. Wie genau definieren Sie diese zwei Begriffe für die DNB?

Für mich bedeutet Barrierefreiheit auf der einen Seite, dass wir für Menschen mit Einschränkungen zugänglich sind – in den Gebäuden, in unseren Dienstleistungen von Mensch zu Mensch sowie in unseren digitalen Dienstleistungen. Aber ich verstehe darunter auch eine generelle Niedrigschwelligkeit in den Angeboten. Im Moment haben wir zum Beispiel unsere Gebühren ausgesetzt, sodass die Kosten für die Benutzung keine Hürde darstellen. Ich würde mir wünschen, dass das verstetigt werden kann. Derzeit befinden wir uns noch in einer Pilotphase, die bis Ende Februar 2025 läuft. Ein anderer Beitrag zur Niedrigschwelligkeit wäre, dass wir unsere Systeme so weiterentwickeln, dass sie möglichst einfach zu bedienen sind. Hier ist das Ziel, den Katalog so zu verbessern, dass er quasi selbsterklärend für die Nutzenden ist.


Gibt es abschließend noch eine Neuerung aus 2023, die Sie thematisieren möchten?

Ein wichtiger Punkt ist die Einrichtung unseres wissenschaftlichen Dienstes in 2023: An unseren Standorten in Leipzig und in Frankfurt am Main haben wir jeweils zwei neue Mitarbeitende. Sie kümmern sich um Netzwerkarbeit in die wissenschaftlichen Einrichtungen hinein, wenden sich an Universitäten, Forschungszentren sowie an einzelne Forschende. Damit tragen sie unsere Sammlungen und Korpora an verschiedene Wissen schaffende Menschen heran – auch in digitalen Formaten. Eine hervorragende Neuerung, auf die wir echt stolz sind und die wir weiter ausbauen möchten.

Letzte Änderung: 04.06.2024

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